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germanskoj obščiny in der Tverskaja ul. 11. Es gehörte dem „Deutschen Wohltätigkeitsverein“ und beherbergte eine Grundschule102. In der Stalinzeit wurde es vom Staat requiriert. Eine Tafel an dem Gebäude erinnert heute daran, daß während des Bürgerkriegs in Spanien hier Kinder spanischer Emigranten untergebracht waren. Ein Hinweis auf den deutschen Ursprung fehlt. Das Jusupov-Palais an der Mojka, wo am 30. Dezember 1916 Rasputin ermordet worden war, wurde 1917 von der schwedischen Gesandtschaft für Aufgaben der schwedischen Schutzmacht angemietet: Schweden hatte nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten im April 1917 von diesen den völkerrechtlichen Schutzmachtauftrag für Deutschland, Dänemark für Österreich-Ungarn übernommen. Im Jusupov-Palais befand sich bis zur Übernahme durch eine reichsdeutsche Mission die Abteilung für [reichsdeutsche] Zivilgefangenenhilfe der Schweden: es war dies die Zentrale für eine Betreuungs- und Fluchtorganisation für sämtliche Angehörige der Mittelmächte, ehemals kriegsgefangene Heimkehrer, Zivilgefangene, aber auch für Rußlanddeutsche, die sich als Reichsangehörige ausgaben, um das kommunistisch und unsicher gewordene Land zu verlassen. Die deutsche Repatriierungs- und diplomatische Mission in Petrograd nutzte das Gebäude wie auch die demolierte deutsche Botschaft unweit davon von Mai bis zu ihrer Vertreibung im November durch die bolschewistische Regierung, die seit dem 10. März 1918 im Moskauer Kreml residierte. Die deutsche Mission übernahm von den Schweden auch den Schutz der Petersburger Deutschen und ihrer zahlreichen Einrichtungen103. Wilde Requisitionen, Raub und Anarchie wurden im Bereich des reichsdeutschen Einflusses in der Stadt unterbunden, Gottesdienste wieder möglich. Im Mai 1918 traf ein deutscher Generalkonsul, Dr. Max Biermann, in Petrograd ein. Er war 1914 der letzte deutsche Konsul in der Hauptstadt gewesen104. Im April/Juni 1918 war auch eine österreichisch-ungarische Repatriierungsmission in Petrograd eingetroffen, die sich in der unzerstört gebliebenen österreichischen Gesandtschaft in der abgelegenen Sergievskaja ul. 10 einrichtete. Nach der Vertreibung der offiziellen österreichischen Vertreter bei Kriegsende kam das Haus in die Hand österreichischer und ungarischer Internationalisten, ehemaligen Kriegsgefangenen, die die Sache der Bolschewiki vertraten. Der Aufenthalt zweier Mittelmächte-Missionen in der anarchischen, unsicheren und an Bevölkerungszahl rasch abnehmenden Metropole ist Gegenstand einer eigenen Betrachtung des Autors. Die Jahre des Bürgerkriegs und des Kriegskommunismus hatten zur Folge, daß mit der ehemaligen gesellschaftlichen und geistigen Elite der Stadt auch zahlreiche Petersburger Deutsche den 1920 verödeten Ort verließen, als nur noch ein Drittel der Vorkriegsbevölkerung dort lebte, etwas über 700.000 Menschen105. Als die deutschen Gemeinden und Organisationen nach sechs Jahren Krieg Bilanz zogen, was von ihrem blühenden, über zwei Jahrhunderte aufgebauten Gemeinwesen übrig geblieben war, standen sie vor einem Scherbenhaufen. Zwar folgte zunächst mit den Jahren der Neuen Ökonomischen Politik (NEP, 1921 bis 1928) eine politische, soziale und wirtschaftliche Entspannung, auch für die ethnischen und konfessionellen Minderheiten. Aber das frühsowjetische Petrograd hatte einen Aderlaß erlebt, der eine Konsolidierung und Stabilisierung der städtischen Strukturen und Funktionen erst viel später ermöglichte als in der neuen Hauptstadt Moskau, wo eine rege Bautätigkeit schon um die Mitte der 1920er Jahre einsetzte. Die deutsche Gemeinde Petrograds sah sich zunächst zahlreicher sozialer Einrichtungen beraubt, die teilweise 1914 schon für russische Kriegszwecke, spätestens aber 1918/19 requiriert worden waren. Provisorien und Neuaufbau gingen hier fast ausschließlich von der evangelischen Kirche aus, seit Mai 1922 beobachtet und zunehmend finanziell und moralisch unterstützt von einem deutschen Generalkonsul, der wieder im Gebäude der alten deutschen Botschaft am Isaak-Platz residierte106. Was war von dem Vorkriegsbestand übrig geblieben, wieviele Deutschstämmige und –sprachige befanden sich noch in der geschundenen Stadt? Von den alten evangelischen Kirchengemeinden war die Annengemeinde am stärksten betroffen, da ihre Räumlichkeiten 1915 vom russischen Militär beschlagnahmt wurden. Daß es ausgerechnet diese Gemeinde so traf, lag auch an ihrer Lage in einem ausgesprochenen Militärrayon der Stadt: sie befand sich im Mittelpunkt eines Ringes von Kasernen (u. a. Preobraschenskij-, Chevalier-Garde-Regiment, Artillerie-Arsenal am Litejnyj Prospekt usw.). Kurze Strecken zum Finnländischen und Moskauer Bahnhof mochten ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Die Annenschule wurde im Krieg in die Räume der Petrischule verlegt, die aber nur abends von den Annenschülern genutzt werden konnten. Von November 1917 bis Sommer 1918 übernahm die Rote Armee die Gebäude, danach für wenige, hoffnungsvolle Monate wieder die Gemeinde107. In dieser Zeit wurde deutscherseits eine erste Bestandsaufnahme von Kirchen und Kirchenschulen unternommen. Bemerkenswert ist, daß neben dem alle Gemeinden betreffenden Problem der Beheizung in der kalten Jahreszeit erste Klagen über eine übermäßige staatliche Besteuerung der Gebäude vorliegen108. Die Gefahr der Auflösung drohte besonders den evangelisch-reformierten Gemeinden, die in Rußland eine ausgesprochen städtische Erscheinung waren. In wenigen Großstädten, in beiden Hauptstädten und Odessa, gehörten ihre Glieder meist der unternehmerischen und vermögenden Schicht an, darunter viele Schweizer. Demzufolge war auch die Reformiertenschule vom Ausbleiben hoher Schulgeldzahlungen durch vermögende Eltern nach 1918 besonders betroffen. Als letzter in Petersburg amtierender reformierter Pastor wurde der Niederländer Schim van der Loeff von der holländisch-reformierten Gemeinde im Juni 1919 verhaftet und nach Moskau verschleppt. Er hatte auch die seit 1918 verwaisten anderen reformierten Gemeinden der Stadt bedient109. Die reformierte Kirche an der Bol‘šaja Morskaja 58/60 wurde 1930 endgültig geschlossen und zu einem Kulturpalast umgebaut, nachdem in den 1920er Jahren der Pfarrer von St. Katharina auf der Vasilij-Insel die Reformierten mitbetreute110. Das neuromanische Gebäude ist als Kirche heute nicht mehr zu erkennen111. Zuerst und von allein lösten sich die lutherischen Gemeinden der Institutionen wie im Kadettenkorps, im Evangelischen Hospital, in der Stadtmission, dann auch einzelne gemischte Gemeinden auf. Nach dem Jahre 1921 wurden außer der Petri- und der Katharinenkirche (Vasilij-Insel) von Pfarrern bedient: die deutsch-lettische Jesuskirche, die St. Marienkirche am Kronwerk, die Annenkirche und die St. Michaeliskirche, die inzwischen – unweit der Katharinenkirche – eine eigene, neue Gemeinde gebildet hatte und sich nicht aus dem vormaligen Kadettenkorps rekrutierte. Römisch-katholischer Friedhof und die Friedhofskirche St. Maria Magdalena auf der Wiborger Seite wurden in den 1920er Jahren geplündert, verwüstet, schließlich abgetragen und teilweise eingeebnet112. Hier rächte sich möglicherweise, daß dieser Friedhof in dem ausgesprochenen Arbeiterviertel nicht mit einem orthodoxen Friedhof verbunden, sondern völlig eigenständig war, während die evangelisch-lutherischen Friedhöfe orthodoxen Friedhöfen angeschlossen waren. Die meisten katholischen Kirchen wurden noch 1922 geschlossen. Im Januar 1918 erließ die Sowjetmacht ein Dekret zur Trennung von Religion-Kirche und Schulen. Die Petersburger Kirchenschulen wurden 1919/20 nach einem zentralistischen System verstaatlicht und erhielten durchlaufende Nummern. Die Petrischule hatte im Herbst 1918 ihren Betrieb mit deutscher Sprache wieder aufgenommen, wurde sogar vom Volkskommissar für Kultur, Lunarčarskij, besucht. Sie wurde schließlich zur „Arbeitsschule“ (russ. trudovaja skola) No 41 und hatte zwei Züge: einen deutschen, in dem die Unterrichtsfächer deutsch unterrichtet wurden, und einen russischen, in dem Deutsch nur als Fremdsprache gelehrt wurde. Nach der Wiedereinrichtung diplomatischer Beziehungen verfaßte der deutsche Generalkonsul v. Keßler im Juli 1922 eine Bestandsaufnahme des deutschen Schulwesens in Petrograd, aus deren Anlagen hervorgeht, daß infolge des besonders schlechten Zustands der Gebäude der Annengemeinde deren Glieder um den Erhalt ihrer Schule kämpften: erstaunlich ist dies, weil sie von den drei noch arbeitenden Oberschulen – neben Petri- und Reformiertenschule – mit 45 % den höchsten Anteil russischer Kinder (nur 35 % deutsche Kinder) hatte. Die Schule erhielt im September 1922 ihre Räumlichkeiten teilweise zurück, doch bedurften diese umfänglicher und kostspieliger Reparaturen113. 1928 setzte eine Kampagne gegen „bourgeoise westlich-nationalistische Einflüsse“ ein, die auch die Reste des vormals selbständigen deutschen Bildungswesens in Leningrad erfaßte. Das Andenken an die alte Tradition der Schule wurde ausgemerzt, die nichtrussischen Kinder in eine andere Schule überführt, Lehrer entlassen. Anfang der 1930er Jahren gab es die Petrischule nicht einmal unter ihrem Namen mehr114. Die letzte deutsche Staatsschule Leningrads wurde 1937 geschlossen. Vorsichtig ging im Mai 1922 das deutsche Generalkonsulat dazu über, Mittel für eine „Stiftung für hülfsbedürftige Deutsche beim Generalkonsulat in Petersburg“ flüssig zu machen115. Anlaß dazu war, daß drei teilweise ausgedehnte Objekte, die vor Kriegsbeginn von reichsdeutschen Fürsorgeorganisationen erworben und betrieben worden waren, nun herrenlos schienen oder sogar vom Zugriff durch den Staat bedroht waren. Daß dies nicht schon während des Kriegs oder durch die junge Sowjetmacht geschehen war, lag an der Abgelegenheit dieser Objekte. Eines davon im Stadtbereich, das Wohnasyl der deutschen Gemeinde in der Tverskaja ul. 11 hinter dem Taurischen Garten, stand leer und war vom Verfall bedroht. Die beiden anderen Objekte befanden sich außerhalb der nördlichen Stadtgrenze im Vorort Lesnoj (benannt nach dem dort befindlichen Forstinstitut). Dort befand sich in der Novosil‘cevskaja ul. 15 ein Altersheim der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisstiftung, das später noch eine Rolle für Deutsche spielen sollte. Es blieb in Privateigentum und in Verfügung des Generalkonsulats116. Das dritte Objekt lag unweit davon in einer nördlichen Parallelstraße, am Englischen Prospekt 6, in Nähe der großen Wiborger Chaussee. Hier handelte es sich um ein großes, als Gemüsegarten genutztes Grundstück mit drei verfallenen Holzhäusern, die von Russen bewohnt wurden. Es war 1913 vom Deutschen Wohltätigkeitsverein erworben worden. Vermutlich hatten die deutschen Besitzer in den Kriegsjahren eine Nutzung oder die Wahrung der Eigentümerrechte aus Sorge vor staatlicher Enteignung nicht geltend gemacht. Der Generalkonsul betrachtete diese Immobilien als Grundstock für die Stiftung und setzte Verwalter für sie ein. Die Beobachtungen der deutschen Generalkonsuln in der Januar 1924 in Leningrad umbenannten Stadt, aber auch die Geschichte der hauptsächlich kirchlichen Einrichtungen, die als deutsche Organisation noch am deutlichsten wahrnehmbar blieben, beschreiben diametral zu dem langsamen Aufstieg der Deutschen dort bis 1914 einen zwei Jahrzehnte dauernden, allmählichen Abstieg. Als nichts anderes wird man die Episode bis 1937/38 bezeichnen müssen, als die letzte Kirche geschlossen, die deutschen Konsuln außer Landes verwiesen wurden und das Deutschtum in Leningrad als kollektive Gruppe verschwand. Und dies trotz des Umstandes, daß es gerade in den 1920er Jahren etliche vielversprechende Entwicklungen in der sich erholenden Stadt gab, die meist vom beständigsten deutschen Element, den Kirchengemeinden ausgingen. Schon im Januar 1918 hatte sich in Petrograd ein „St. Petersburger Verband russischer Bürger deutscher Nationalität“ gebildet, der aus Mitgliedern des vormaligen Deutschen Bildungs- und Hilfsvereins hervorging und bald 2.000 Mitglieder zählte117. Wie in anderen Städten Rußlands mit größeren deutschsprachigen Gemeinden erklärte der Verband bei der Registrierung durch die Sowjetbehörden seine Aufgabe mit kulturell-aufklärerischen Absichten, die auch konfessionelle Anliegen einschlossen. Von den Bolschewiki als bourgeois erkannt, wurde der Verband mehrmals geschlossen und unter anderem Namen wiederbegründet: Petersburger Deutscher Verband, Petersburger Deutscher Bildungsverein. Die Geschäftsadresse Kleine Stallhofstraße 1/3 weist auf die Nähe zu, ja, wohl geistig-räumlichen Identität mit der Petrikirche, wenngleich die Vereinsvorsitzenden keine kirchlichen Würdenträger, sondern Lehrer – meist der ehemaligen Kirchenschulen – und leitende Angestellte waren. Bis zu seiner endgültigen Schließung Ende 1929 führte der zunehmend schrumpfende Verein ein Kulturprogramm durch: Theater- und Choraufführungen, kulturgeschichtliche und wissenschaftliche Vorträge, Literaturabende118. Etwas später erst, im März 1923, gründete sich die Deutsche Musikgesellschaft, die ihren Sitz in der Bol‘šaja Morskaja 31, dem früheren Versammlungshaus des ehemaligen Kaiserlichen Russischen Yacht-Clubs,119 nahm, aber in der Annenschule Konzerte aufführte120. Wie beim Bildungsverein war ihre Tätigkeit durch die Sowjetverwaltung auf das Stadtgebiet beschränkt, erhielt diskret Unterstützung durch den deutschen Generalkonsul und bestand aus den Resten der ehemals bürgerlichen deutschen Elite. 1924 hatte sie 150 sämtlich parteilose Mitglieder: sie waren zu 55 % Angestellte und zu 35 % „Hausfrauen“. Im Mai 1930 wurde die Gesellschaft aufgelöst. Auch einen Deutschen Kommunistischen Klub gab es seit 1925 in Leningrad, als die Sowjetregierung ihre Politik gegenüber der nationalen Minderheiten (korenizacija) intensivierte, um diese in das zu jener Zeit recht freizügige Sowjetleben einzubinden121. 1932/33 wurde er mit dem Nemeckij Dom Prosveščenija verbunden, einer sowjetischen Kultur- und Propagandaeinrichtung, der außer Sowjetdeutschen auch Politemigranten aus Deutschland, Österreich, Ungarn und alte Internationalisten angehörten, insgesamt wenig mehr als 100 Personen. Im August 1937 wurde das Haus, das in der Zeit seines Bestehens sieben verschiedene Adressen hatte, sang- und klanglos zu Zwecken der Raumbeschaffung aufgelöst: also nicht aus vorderhand klassenkämpferisch-ideologischen Gründen122. Es war die letzte deutsche Institution in der Stadt gewesen. Zu den vielversprechenden Ansätzen der 1920er Jahre gehörte auch die Verlegung des Zentralen Deutschen Pädagogischen Technikums von Moskau nach Leningrad zu Ende 1925 (Mojka 76, zwischen Jusupov-Palais und Marienpalast)123. In Moskau herrschte zu dieser Zeit eine viel größere Wohnraumnot, außerdem fehlte es dort an deutschsprachigen Studenten und Dozenten. Der Lehrbetrieb begann im Winter 1926 mit 102 Studenten, die überwiegend aus deutschen Kolonien des Landes stammten, und 23 meist deutschstämmigen Lehrern. Die Absolventen unterrichteten später in den ehemals evangelischen Kirchenschulen, die zwar in denselben Räumen noch bestanden, aber nun vom Staat zentral durchnumeriert und seit 1918 dem kirchlichen Einfluß entzogen waren. In der frühen Stalinzeit ging eine Säuberungswelle durch das Pedtechnikum. Mitte der 1930er Jahre wurde es im Zuge der Beseitigung minderheitennationaler Einrichtungen geschlossen124. In den ersten Jahren der Alleinherrschaft Stalins wurden auch die meisten anderen deutschen Vereine geschlossen. Darunter befanden sich solche, die hier nicht weiter besprochen wurden: die Gesellschaft der Leningrader deutschen Ärzte (1923 – 1931), der Verband deutscher Architekten und Ingenieure. Die Allunions-Volkszählung des Jahres 1926 ergab, daß sich die Zahl der nun Leningrader Deutschen nach einer langen Zeit der Anarchie stabilisiert hatte: 16.916 bezeichneten sich als Deutsche, insgesamt waren es im Gouvernement 25.213 Deutsche, von denen allerdings nur noch 12.766 Deutsch als Muttersprache nannten125. Die antideutschen Gesetze, Revolution und Bürgerkriegsjahre hatten sich über sechs lange Kriegsjahre russifizierend ausgewirkt. Noch immer lebten aber die meisten Deutschen in den zentralen Stadtvierteln, wo sie etwas über 1 % der Einwohner ausmachten. Für 1927 liegen auch Angaben zur Seelenzahl der deutschen evangelischen Gemeinden vor: die größte von ihnen versammelte sich immer noch mit 4.000 Gliedern um St. Petri, gefolgt von der Annengemeinde mit 3.000 Seelen und 2.000 bis 2.500 Seelen der Katharinengemeinde126. Einige hundert Gläubige der Streugemeinden wie die Reformierten, der Michaelis- und St. Marienkirche sowie deutsche Katholiken mögen hinzuzurechnen sein, die sich bis 1929/31 in ihren Kirchen zusammenfanden. Somit mochten immer noch zwei Drittel der Leningrader Deutschen eine Bindung zu Religion und Kirche haben. Am längsten sind die Deutschen der vormaligen russischen Hauptstadt in den religiösen Institutionen als eigenständiges Element erfaßbar. Die evangelische Kirche und ihre Organisation in Leningrad sollen daher abschließend betrachtet werden. Hatte sich bis 1918 die zentrale Verwaltung der evangelisch-lutherischen Kirche Rußlands in Petrograd befunden, so trat hier eine grundlegende Wandlung ein, die nicht durch den Umzug der Regierung nach Moskau begründet war. Mit den neu entstandenen baltischen Staaten und der Abtretung westlichen Territoriums an die zweite polnische Republik brachen nichtdeutsche Lutheraner vom Gesamtbau der evangelischen Kirche Rußlands ab, die eigene Nationalkirchen der Finnen, Esten und Letten bildeten. Zahlreiche deutsche Kolonisten in diesen Gebieten, vor allem aber in den nun zu Polen gehörenden Gebieten, befanden sich nun ebenfalls außerhalb der Sowjetunion. Die evangelische Rumpfkirche, durch drei Jahre Welt- und drei Jahre Bürgerkrieg im Land organisatorisch und strukturell geschädigt, bedurfte unter fortdauernd schwierigsten Verhältnissen über vier Jahre für eine Konsolidierung, die die Zentrale in die größte Moskauer Gemeinde der Lutheraner verlegte. Seit 1924 bestand unter zwei neu ernannten evangelischen Bischöfen eine Haupt- und die Nebenzentrale in Leningrad. Der schwierige innere Weg bis dahin soll hier nicht interessieren127. Entscheidend für Leningrad und seine Deutschen wurde, daß Bischof Arthur Malmgren (1860 – 1947) dort für die Außenbeziehungen der Evangelischen Rußlands zuständig und 1925 Leiter eines theologischen Seminars für den ganzen Staat wurde, nachdem mit der Unabhängigkeit Estlands die einzige evangelische Theologische Fakultät Rußlands an der Universität Dorpat/Tartu 1918 für die Russlanddeutschen verloren gegangen war. Nach Kriegsverlusten und Emigration vieler Pfarrer und ihrer Familien machte sich ein Mangel an Geistlichen bemerkbar, die nach den neuen Sowjetgesetzen nicht einfach aus Deutschland berufen werden konnten, sondern russische Staatsbürger sein mußten. Die zunehmend wichtige Pflege der Außenbeziehungen war wiederum in Petrograd-Leningrad besser aufgehoben als in der neuen Sowjethauptstadt. In der Stadt am Finnischen Meerbusen konnten die Kirchen einen größeren Spielraum nutzen. Auch räumlich sprach die Nachbarschaft zu den baltischen und skandinavischen Schwesterkirchen dafür. Doch nicht nur sie wurden Ansprechpartner in diesen Beziehungen, sondern natürlich auch Deutschlands Protestanten. Die verarmten russischen Gemeinden wandten sich wegen finanzieller und materieller Hilfe bald an internationale Kirchenorganisationen, die Vertretungen auch in Deutschland hatten: Lutherischer Weltkonvent, Gustav-Adolf-Verein (Leipzig) u. a. Mit dem in Petrograd eingerichteten deutschen Generalkonsulat fand sich dann auch eine unauffällige, aber wohlwollend-interessierte Einrichtung, die die evangelische Kirche der Stadt, aber auch im übrigen Staat, direkt und vermittelnd unterstützte, weil sie in ihr das wichtigste Element zu Erhaltung des russischen Deutschtums erblickte128. So unterstützte das Generalkonsulat von Anfang an Malmgrens Predigerseminar und registrierte seinen Existenzkampf, als seit 1929 der Sowjetstaat an die Ausmerzung aller Kirchen schritt. Theologische Predigerkurse hatte es seit Herbst 1922 in Petrograd gegeben, um dem schon spürbaren Pfarrermangel zu begegnen129. Nach einer einjährigen Vorbereitung, in der mit reichsdeutscher Hilfe auch eine Bibliothek aufgebaut wurde, eröffnete das Predigerseminar Mitte September 1925 seine Tätigkeit mit 24 Seminaristen in den Räumlichkeiten der Annengemeinde. Damit waren zwei Vorteile gewonnen, denn Kirche und Gebäude der Annengemeinde waren – schon 1915 – viel stärker von Enteignung und Zweckentfremdung bedroht als die beiden deutsch-lutherischen Gemeinden, St. Petri und St. Katharina. Die auf weniger als 150 Seelen zusammengeschrumpfte deutsch-reformierte Gemeinde, das wurde schon früh erkannt, würde bald in einer der lutherischen Gemeinden aufgehen, wenn auch in ihrer Kirche vielleicht bis 1930 noch Lesegottesdienste abgehalten wurden130. Insbesondere aber auch die große Gemeinde von St. Petri fürchtete die Enteignung ihrer Kirche, da sie für lange notwendige Reparaturen am Dach und an der Heizung nicht mehr allein die Mittel aufbringen konnte131. Das Predigerseminar arbeitete in den darauffolgenden Jahren unter Malmgrens Leitung mit 20 bis 25 Seminaristen und acht meist geistlichen Dozenten, von denen einige Pfarrer evangelischer Kirchen in Stadt und Umgebung waren. Einen ersten empfindlichen Schlag gegen Kirche und Predigerseminar führte der Staat 1929 mit dem „Dekret über religiöse Vereinigungen“ vom April 1929. Schon 1928 war es zur zeitweisen Verhaftung einzelner Geistlicher gekommen, die mitunter am Predigerseminar lehrten132. Das neue Dekret drohte mit der Enteignung der Räumlichkeiten, was kurzfristig noch abgewendet werden konnte. Im gleichen Jahr, als im übrigen Lande gemeinsam mit der „Entkulakisierung“ und Kollektivierung auch die Geistlichen verfolgt wurden, wurden für die zahlreichen evangelischen Gebäude in und bei Leningrad die Gebäudesteuern, die Sozialversicherungen für ihre Angestellten und die Stromkosten erhöht. Wenn dies auch nicht direkt als Schlag gegen kirchliche Einrichtungen interpretiert werden konnte, so erhöhte es den Druck gegen sie in der Folgezeit zu solch einem Maß, daß Malmgren zu Beginn des Jahres 1930 die Nutzung eines anderen Gebäudes vorschlug, für dessen Anmietung eine kostengünstige Lösung gefunden werden sollte133. Es handelte sich um die geräumige, aber reparaturbedürftige Villa eines in Ausland lebenden deutschen Fabrikanten, Heinrich Ahrendt. Das Haus in der Pesočnaja ul. 8 befand sich auf der Apotheker-Insel. Im September 1930 wurde es mit deutscher Unterstützung angemietet, als der Besitzer schon im November jenes Jahres in Riga unvermittelt verstarb134. Obwohl sich das Seminar in seinem neuen Domizil einlebte, wurde die Leitung immer wieder daran erinnert, daß man nicht in einem Rechtsstaat lebte und jederzeit mit repressiven Maßnahmen des Staates zu rechnen hatte. Die Kirchenverfolgung richtete sich seit den ausgehenden 1920er Jahren gegen alle Konfessionen im Sowjetstaat, daher bestand für das Ausland keine Möglichkeit, als Weltöffentlichkeit dagegen einzuschreiten. Zudem geschahen die Pastorenverhaftungen auch unter Stalin formaljuristisch „korrekt“: den Geistlichen wurde nicht ihre Weltanschauung zum Vorwurf gemacht, sondern konkrete Gesetzesübertretungen nach dem gültigen Sowjetrecht, das in dem für den einzelnen Sowjetbürger eng bemessenen Handlungsraum allerdings selbst schon genügend inhuman war. Als politische Provokation wird man die „Holzkaufaffäre“ vom August 1932 ansehen müssen: in jenem Monat befand sich Bischof Malmgren zu Besprechungen mit Kirchenvertretern in Deutschland, als er in ein Anklageverfahren des Leningrader Sowjets verwickelt wurde. Dieser machte dem Seminardozenten und Pfarrer Heinrich Berendts und der Leningrader Kirchenleitung insgesamt den Vorwurf, Brennholz für den Winter erworben zu haben, von dem bekannt war, daß es sich um Hehlerware handelte135. Die deutschen Regierungsstellen und Kirchenverwaltungen mutmaßten sofort, daß der Sowjetbürger, Leningrader Bischof und Seminardozent Malmgren von der Rückkehr in den Sowjetstaat abgehalten und so indirekt das Predigerseminar empfindlich getroffen werden sollte. In Verhandlungen mit dem nun eingeschalteten Moskauer Botschafter in Berlin, Chinčuk, wurde erreicht, daß Malmgren aus der Berichterstattung über den „Holzschieberfall“ in der Sowjetpresse und aus dem Strafverfahren gegen seinen Schwiegersohn Berendts herausgehalten wurde. Berendts hingegen wurde zur Verbannung verurteilt. Nach der Machtergreifung der Nazis im Januar 1933 verschlechterten sich die politischen Beziehung Deutschland zu Stalins Sowjetunion abrupt, wenn es auch außer der fortgesetzten Verfolgung von Kirchen und Geistlichen dort zunächst keine direkten Auswirkungen auf die Gemeinden gab. Welchen Stellenwert die evangelischen Einrichtungen in Leningrad beim deutschen Auswärtigen Amt zu jener Zeit einnahmen, erhellt aus einer besonderen Anweisung des deutschen Botschafters in Moskau an den Generalkonsul in Leningrad, insbesondere die Petrikirche genau zu beobachten136. Hintergrund dafür war, daß am 30. Januar der Pfarrer der deutschen Kolonie Novo-Saratovka östlich von Leningrad auf nichtlegitimierten Weg und auf Drängen der sowjetischen Geheimpolizei GPU durch den eingeschüchterten Kirchenrat zum Hauptpfarrer der Petrikirche gewählt worden war, ohne daß die Kirchenoberen, allen voran Malmgren, dagegen hätten einschreiten könnten. Diese und die reichsdeutschen Vertreter wurden noch mißtrauischer, da Pfarrer Paul Reichert schon im Herbst 1932 die Auflösung des Predigerseminars befürwortet hatte und in der Folge die Zusammenlegung aller vier noch funktionierenden evangelischen Kirchengemeinden in St. Petri propagierte137. Daß zumindest die vierte, St. Marien, auch für Leningrad „zuviel“ sei und als Beichtkreis einer anderen Gemeinde angeschlossen werden könne, war früher schon von anderen Geistlichen vertreten worden. In der Folge pastorierte Paul Reichert gemeinsam mit seinem Sohn Bruno, einem 1932 examinierten Zögling des Predigerseminars und Adjunkten seines Vaters, als letzter Leningrader Pfarrer: am 26. Juni 1935 berichtete Malmgren, bis auf St. Petri seien alle Kirchen der Stadt zu Pfingsten geschlossen. St. Anna, das Malmgren bis zum Umzug des Predigerseminars im Sommer 1930 bedient hatte, wurde von seinem Zögling Eugen Bachmann bis zu dessen Verhaftung 1934 bedient138. Sämtliche andere Kirchen waren schon Anfang 1935 geschlossen worden. Der politische Hintergrund dafür war, daß am 1. Dezember 1934 der Leningrader Parteisekretär Sergej Kirov unter nie ganz geklärten Umständen ermordet wurde. Noch im selben Monat richtete sich der stalinsche Terror auch gegen die evangelischen Einrichtungen in der von dem Diktator persönlich gehaßten Stadt an der Neva139. Malmgren hatte nach den Pastorenverhaftungen seit 1929 weiter für den Erhalt des Seminars gekämpft, wie Generalkonsul Sommer noch Anfang Dezember 1934 meldete. Neben dem Predigerseminar wurden auch Geldmittel für das Altersheim in Lesnoj bereitgestellt. Doch zwei Monate später war es vorbei: das Predigerseminar wurde geschlossen. Malmgren, der im Frühling 1935 einen Ausreiseantrag stellte, betrieb die Liquidierung von Eigentum und Gebäude, mußte aber noch den innerkirchlichen Streit jenes Jahres miterleben, den er auf die Umtriebe von Vater und Sohn Reichert zurückführte140. Erst am 20. Juni 1936 konnte Malmgren nach Deutschland ausreisen, wo er sich weiter für Spenden zum Unterhalt des Lesnoj-Altersheim verwendete141. Am Heiligabend 1937 schloß die letzte funktionierende evangelische Kirche Leningrads ihre Pforten. Dies geschah einen Monat nach der Verhaftung ihres letzten Pfarrers. Ob es danach noch eine Katakombenkirche in der Stadt gegeben hat, die mittlerweile wieder 3 Millionen Einwohner hatte, ist unwahrscheinlich. Im Januar 1938 liquidierte das deutsche Generalkonsulat am Isaak-Platz, gleichzeitig mit den anderen deutschen und anderen Konsulaten ausländischer Staaten im Land, die sich seit Herbst 1937, dem Höhepunkt der stalinschen Säuberungen, sowjetischem Druck zur Auflösung ihrer Vertretungen ausgesetzt sahen: sowjetischerseits wurde dabei in Kauf genommen, daß im Gegenzug ihre, in Deutschland überproportionierten Vertretungen aufgelassen würden142. Seit dieser Zeit sind auch keine Daten mehr über die Deutschen der Stadt erhalten. Nach dem Molotov-Ribbentrop-Pakt vom August 1939 zog für ein Jahr von Mai 1940 bis Juni 1941 noch einmal ein deutscher Generalkonsul, Dr. Carl Dienstmann, in das alte Botschaftsgebäude am Isaak-Platz. Zu den Deutschen in der Stadt selbst konnte er nichts mehr berichten143. Anfang Dezember 1940 meldete eine russische Zeitung, die gewaltige Orgel der Petersburger St. Petrikirche sei abgebaut und in den gerade neu eröffneten Tschaikowskij-Konzertsaal am Moskauer Majakovskij-Platz eingebaut worden144. Als kollektive Schicksalsgemeinschaft verschwinden die Deutschen, bis im Oktober 1941 die meisten von ihnen vor der Einschließung Leningrads durch die Truppen der Wehrmacht aus der Stadt evakuiert wurden. Erwähnenswert ist dabei, daß es insbesondere deutschen Frauen gelang, auch über die 999 Tage der Blockade Leningrads in der Stadt zu bleiben, eine wenig verheißungsvolle Perspektive. Oft waren dies mit Russen verheiratete Frauen, bei denen es nicht auffiel, daß sie deutscher Herkunft waren. Ausnahmen davon wie die nachfolgende mochte es mehrfach gegeben haben. Natalia Flittner (1879 – 1957) war Orientalistin und Wissenschaftlerin der Staatlichen Ermitage-Museen145. Der Sproß einer rußlanddeutschen Pastorenfamilie, die viel in Petersburgern Gemeinden wirkte, trat 1919 in den Dienst der Ermitage-Sammlungen als Expertin für den alten Orient. Dort und später an der Leningrader Universität arbeitete sie bis 1950. In einem Fragebogen für die Mitarbeiter schrieb sie im Dezember 1942 über sich: Nationalität – Deutsche (russische), sozialer Stand: Adelige. Unbeschadet lebte sie in Leningrad, wo sie 1957 auch starb und beerdigt wurde. Die Geschichte der Deutschen in St. Petersburg, eine Weltstadt, deren Werden und Entstehen sie wesentlich mitgeprägt hatten, läßt sich in zwei unterschiedlich lang dauernde Epoche scheiden: in der „Petersburger Epoche“ von 1712 bis 1914/17 ist ihr vielfältiger Anteil in Residenz und Staat nicht wegzudenken. In den zwei Jahrhunderten, als der russische Staat unter den Romanov und Romanov-Holstein-Gottorp europäische Großmacht wurde und seine Blütezeit erlebte, zeichnet sich die Geschichte der Deutschen dort als beständige Aufwärtsentwicklung ab: Ausbreitung und Wachstum des deutschen kulturellen, geistlichen und wirtschaftlichen Lebens, seit der Herrschaft Katharinas der Großen unter zunehmendem politischen und staatlichen Einfluß gerade in der Hauptstadt. Das hat sich architektonisch, aber auch allgemein historisch und literaturgeschichtlich vielfältig in der Stadt niedergeschlagenen, wenn auch vieles verloren ist und Spuren verwischt sind. Unterbrochen von einer mehrjährigen „Deutschenpsychose“ im Ersten Weltkrieg setzten dann unter der Sowjetherrschaft zwei Jahrzehnte eines rasanten Abstiegs ein, an dessen Ende 1938 alle deutsche Einrichtungen verschwunden waren. Doch am Ende der Sowjetunion erinnerten sich die Bewohner der ehemaligen Hauptstadt umgehend des deutschen Namens – und wohl auch des deutschen Anteils am Ursprung ihrer Stadt, die nun wieder St. Petersburg hieß und auch den Straßen ihre alten Namen wieder brachte. 1994 wurde an die Wiederherstellung der St. Petri und Pauli-Kirche geschritten, die in den 1950er Jahren zu einem Hallenbad umgebaut worden war. Seitdem wohnt die evangelische Kirche, in der das deutsche Leben in der Stadt seit Beginn organisiert und verkörpert war, und mit ihr eine neue „Petrischule“ wieder in St. Petersburg146. |
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